Rudern und drumrum

Bleiben Sie zuhause. Denken Sie nach.

Wir haben vor Kurzem eine Autofahrt unternommen. Eine sehr lange. 2550 km beträgt die Strecke von Setúbal in Portugal nach Bamberg in Bayern. Eine Distanz, die man üblicherweise mit dem Flugzeug überbrückt, was A) deutlich weniger kostet und B) viel schneller geht. Aber erstens hatten wir unsere Gründe, und zweitens ist momentan sowieso alles anders. Wir schreiben das Jahr 1 von Corona. Und das, was auf dem Foto oben unscharf zu erkennen ist, heißt auf Portugiesisch „Bleiben Sie zuhause“. Da unser Zuhause an dem einen Ort (gefühlt) nicht mehr und an dem anderen faktisch noch nicht ist, mussten wir diese Fahrt unternehmen. Sie hat uns 34 Stunden Zeit gegeben, nachzudenken über das, was gerade rings um uns und mit uns geschieht.

Und so war das: Tempomat einstellen, Spur halten, Landschaft genießen, Musik hören, reden. An den Grenzen freundlich nach dem Woher, Wohin und Warum gefragt und dann – nach Vorzeigen der Transit-Bescheinigung des Auswärtigen Amts – durchgewinkt werden. Auf einem schönen, gepflegten Rastplatz in Frankreich einsam und ungestört ein paar Stunden im Auto pennen. Am Morgen hinter den Bäumen die Sonne aufgehen sehen, das mitgebrachte Frühstück verzehren, den Hund ein bisschen bewegen und den Vögeln beim Frühkonzert zuhören. Überhaupt, die Vögel – was für ein fantastisches Gezwitscher überall. Leider auch viele Vogelleichen auf der Strecke. Die kleinen Scheißer fanden es toll, sich auf der leeren Fahrbahn niederzulassen, und obwohl so wenig Verkehr unterwegs war, hat es zahlreiche davon erwischt. Für uns: Kein Gehupe, kein Bedrängen, keine Raser*. Leider auch kein Kaffee. Auf der gesamten Strecke außerhalb Deutschlands durfte uns kein Becher Kaffee verkauft werden. Das war hart, zugegeben, aber auszuhalten. Am Ende: Plattgesessen, aber entspannt angekommen im Land der „Privilegierten“.

Es ist uns nicht gelungen, diese Anweisung zu befolgen und min. zwei Pfeile Abstand zum Vordermann zu halten.

Mir ist klar, dass man diesen Zustand nicht festhalten kann. Ich rechne damit, dass es nach dem Ende der Einschränkungen durch Corona furios weitergehen wird, gebremst lediglich durch reduzierte Kaufkraft. Die wenigen Erfolge in Sachen Klimawandel werden mit einem Federstreich vom Tisch gewischt werden, denn es geht ja darum, uns allen ein menschenwürdiges wirtschaftliches Niveau zu ermöglichen – auf kurze Sicht. Kultur fällt auch hinten runter. Nicht lebenswichtig. Tierschutz sowieso. 

Wer sagt denn, dass es kaum noch Insekten gibt? Ich sage das, wie viele andere auch. Es ist wissenschaftlich erwiesen, und die Folgen sind dramatisch. Aber hier könnte man auf die Idee kommen, dass die paar, die es noch gibt, alle an unserem Kühler kleben. Zum ersten Mal habe ich mich darüber gefreut, dass unser Auto dreckig ist.

Wir müssen uns einschränken, und für nicht wenige ist die Situation dramatisch. Aber den meisten von uns könnte doch auffallen, wie wenig wir wirklich noch dringend brauchen. Wir haben alles. Das, was uns derzeit belastet, ist nicht, dass uns etwas fehlt (Klopapier, Nudeln, ein neues Smartphone …). Was wir entbehren, sind Kontakte, Begegnungen, Aktivitäten. Wir müssen zwar einkaufen, aber nicht shoppen. Wir brauchen Mobilität, aber braucht wirklich fast jeder ein Auto, womöglich noch in XL? Wir müssen uns erholen und wollen etwas von der Welt sehen, aber wie erholsam und bereichernd ist die Reise auf dem Kreuzfahrtschiff mit tausend anderen, laut, schrill, maßlos, oberflächlich? Ich wünsche mir so sehr, dass diese Selbstbeobachtung auch andere anstellen. Ich wünsche mir eine Grundversorgung für alle oder wenigstens eine Portion Demut und Großzügigkeit bei denen, die so „gestopft“ sind, dass sie ihren Wohlstand niemals werden verbrauchen können.

Noch 225 km, dann haben wir die Hälfte der Strecke geschafft. Um ein Uhr morgens konnten wir eine Schlafpause einlegen.

Das letzte Mal mit dem Auto von Portugal nach Deutschland bin ich 1976 gefahren. Nach dem Abi hatten meine Eltern mir erlaubt, mit unserer „Ente“ zu verreisen, und sie waren schockiert, als wir das Auto fünf Wochen später mit mehr als 6000 km mehr auf dem Tacho zurückbrachten. Portugal war damals schön, aber arm. Man hat uns das Dach des 2CV aufgeschnitten, ein Radio aus dem Zelt geklaut, auf der Autobahn in Spanien hat uns die Guardia Civil angehalten und uns um 4000 Pesetas (150 DM) erleichtert, weil wir angeblich zu schnell gefahren sind.

Wir sind viel über Landstraßen gefahren, haben in Jugendherbergen übernachtet oder im Zelt auf der Luftmatratze. Das mit der Luftmatratze haben wir diesmal auch gemacht, im Leben hätte ich nicht mehr damit gerechnet. Heute haben wir andere Sorgen als damals. Es herrschte Kalter Krieg, für uns ein bisschen abstrakt. Was uns bewegt hat war die Frage, was aus uns werden würde. Ein Leben voller Möglichkeiten lag vor uns – vorausgesetzt, wir hatten genug Schneid. Heute liegt das meiste hinter uns, wir haben es „geschafft“ und sind dabei, den Planeten zu ruinieren. Das ist nicht abstrakt, sondern absurd.

Der Eintrag aus meinem Tagebuch von damals gilt heute noch: Die Portugiesen sind nett, nett, nett.

* In Deutschland war es mit der Beschaulichkeit auf der Straße übrigens gleich wieder vorbei. Kaum hatten wir die Grenze überquert, als uns die Druckwelle des ersten SUV fast von der Fahrbahn gehebelt hätte. Und dann kam einer nach dem anderen. Das gleiche Bild wie immer an einem sonnigen Sonntagnachmittag. Ja geht’s uns eigentlich zu gut (rhetorische Frage)?

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