Rückwärts ist vorwärts (1)

Während die meisten Leute es während der Bahnfahrt bevorzugen, in Fahrtrichtung zu sitzen, während manche Kleinkinder nur so lange rückwärts krabbeln, bis sie den Vorwärtsgang beherrschen, während Krabben alle vier Himmelsrichtungen zur Verfügung stehen und Hubschrauber und Libellen völlige Freiheit der Wahl haben, ist der gemeine Ruderer auf den Rückwärtsgang festgelegt. Bei ihm ist rückwärts vorwärts. Von den meisten wird dies als Nachteil empfunden, und dafür gibt es gute Gründe.

Man kann dieser Eigenart der sportlichen Fortbewegung aber auch Positives abgewinnen, und ohne uns groß darüber Gedanken zu machen, tun wir das ständig. Wenn wir auf unserem See vom Bootssteg aus zum Beispiel Richtung Süden fahren und in Aidenried wenden, und wenn die Sicht gut ist, dann kommt ein Moment, der ist unübertroffen. Dann liegt vor uns die Kette der Alpen, mit Dreitorspitzen, Alpspitze (bewährte Landmarken) und Zugspitze, je nach Saison bis weit ins Jahr hinein weiß besetzt, und bietet Postkartenkitsch vom Feinsten. Im Vordergrund bilden der Raistinger Kirchturm und die Antennen und Sender der Raistinger Erdfunkanlage dazu einen eigenwilligen Kontrast. Den ganzen Weg zurück liegt diese Pracht vor uns. Oder liegt sie etwa hinter uns?

Weil Rudern eine langsamere Fortbewegung ist als Bahnfahren, sind die Eindrücke des vorbeiziehenden Geländes deutlich besser zu bewältigen. Im Gegenteil, die auftauchenden Objekte bieten immer wieder kleine oder größere Überraschungen. Wer einmal elbabwärts durch Dresden gefahren ist, weiß, wovon ich rede. Es war meine erste Wanderruderfahrt, die mich dort hin geführt hat, und das Erlebnis war großartig. Von Tschechien kommend verdichtet sich die Bebauung zunehmend, je weiter wir uns der großen Stadt nähern. Und nach und nach tauchen sie auf, die Prachtbauten, für die die Stadt berühmt ist, aufgereiht am Ufer wie Perlen an der Schnur: Japanisches Palais, Semperoper, Zwinger, Hofkirche, Residenzschloss, ehemalige königliche Kunstakademie an den Brühlschen Terrassen, Frauenkirche. Wie in Zeitlupe gleiten wir unter dem Blauen Wunder (1893 erbaute Hängebrücke) hindurch und lassen das Barock und die Ergebnisse der Restaurationsenergie der Nachkriegszeit an uns vorüberziehen. Aus unserer ungewöhnlichen Perspektive sehen die berühmten Bauwerke noch imposanter aus, und uns bleibt mit dieser Art Sightseeing im Rückwärtsgang Zeit zum Schauen und Genießen.

Dresden Panorama
Foto: Burkhard Koye. Er kann also nicht in diesem Boot gesessen haben.

Dass die Dinge nicht vor uns liegen, sondern sich erst im Vorbeifahren erschließen und dann eine Weile im Blickfeld bleiben, vertieft die Eindrücke. Ich will nicht behaupten, dass Rudern eine kontemplative Angelegenheit ist; es kommt darauf an, wie man es betreibt. Wer Regatta fährt, hat sicher keinen Blick für die Schönheit der Welt außen herum. Aber es hat eine kontemplative Komponente, die durch die rhythmische Bewegung des Ablaufs unterstützt wird. Für Leute wie mich, die ein bisschen in einem kindlichen „Und was kommt jetzt?“ hängen geblieben sind, den Blick immer nach vorn gerichtet (oder womöglich nach unten auf das Display des Smartphones), ist es der perfekte „Ausgleichssport“.

Die Ruderer schätzen diesen Aspekt ihres Sports trotzdem nicht sonderlich, aus rein praktischen Gründen. Denn nicht zu sehen, wohin man fährt, hat seine Tücken und ist unbequem. Aber so ist es nun mal. Ohne das eine ist das andere nicht zu haben.