Über Ehrgeiz, Leistung und Lust

Vor und nach jedem Ruderausflug stehen wir vor unserem Computer im Bootshaus und erfassen die Eckdaten: Wer ist gerudert, wann, mit welchem Boot, wo und wie weit. Nicht selten werfen wir anschließend einen Blick auf die Seite “Gefahrene Kilometer” unserer Statistik. Und soll mir einer erzählen, dass es bei ihm nicht so ist: Ich suche immer gleich meinen eigenen Namen und den Balken daneben.

Im Studium war mir das Fach Statistik verhasst. Im Alltag und im Job finde ich das, was die Statistik hergibt, total interessant. Denn es ist alles andere als trockene Zahlen. Die Zahlen erzählen Geschichten, und die lauten zum Beispiel so:

Wer viel Zeit hat, kann viel rudern. Muss aber nicht. So mancher rudert leidenschaftlich gern, ist aber auch öfter mal auf Reisen. Dann ist die Zahl mittelgroß. Ist die Kilometerzahl groß bis sehr groß und die Anzahl der Kilometer pro Fahrt ebenfalls, dann handelt es sich um Ruderer, die ihre Kilometer größtenteils außerhalb zusammentragen (um Namen zu nennen: Anneliese und Elmar). Es gibt Berufstätige und sehr berufstätige, die eher im Mittelfeld oder sogar weiter unten in der Statistik herumdümpeln. Es gibt Anfänger, die noch nicht so dürfen, wie sie wollen. Und solche, die sich nur einmal im Jahr sehen lassen und dann nicht wieder (und dann schmerzlich vermisst werden). Und nicht zuletzt gibt es Friedrike, die am 304. Tag des Jahres zum 148. Mal auf dem Wasser ist (auf dem Foto war ihre Tagesfahrt noch nicht mitgezählt).

Melly kommt auch schon auf einige Fahrten in 2016. Die Statistik ist ihr aber vermutlich herzlich egal
Melly kommt auch schon auf einige Fahrten in 2016. Die Statistik ist ihr aber vermutlich herzlich egal

Ein paar Mal schon musste ich hören, ich sei so ehrgeizig. Das trifft mich, jedes Mal, ich höre es nicht gern. Soeben wird das Reformationsjahr eingeläutet (500 Jahre), und ich lese: Für Luther ist Ehrgeiz “das schändlichste Laster”. Kein Wunder also, wenn ich mich bei diesem “Kompliment” schlecht fühle. Aber ich kann nicht verhehlen, dass ich mich über meine Platzierung da oben in der Statistik freue. Sie kommt nicht von ungefähr, ich habe viel dafür getan, habe mich angestrengt, Prioritäten gesetzt, Zeit aufgewendet. Im Regattatraining habe ich mich nicht nur anleiten lassen, ich habe mich auch Kritik ausgesetzt. Bei Regatten habe ich mein Letztes gegeben. Wenn ich unseren Fünfer vom Bug aus mit Fußsteuer lenke und das gut klappt, erfüllt mich das mit Stolz. Wenn es mir gelingt, im Skiff eine gute Figur zu machen, bin ich erleichtert und begierig, es wieder und wieder zu versuchen. Ich gebe zu, jeder kleine Erfolg ist ein Lustgewinn.

Was also ist das Schlechte daran? Vielleicht, dass andere sich abgehängt fühlen? Das ist aber dann deren Problem. Meine südafrikanischen Ruderfreunde meinten einmal, ehrgeizige Menschen hätten es nicht immer leicht, sie wären wie Poppy Flowers (Mohnblumen), die ihre Köpfe über die anderen hinaus recken und mit ihrer Farbe um Aufmerksamkeit buhlen. Ich finde Mohnblumen toll, das Rudern macht mir Spaß, mich in der Leistung zu spüren, genieße ich. Ein jeder hat seine eigene Geschichte und seine eigenen Motive. Und Statistik zeigt zwar Zusammenhänge auf, erklärt aber nicht alles.

sommerblumen

 

 

 

2 Gedanken zu „Über Ehrgeiz, Leistung und Lust

  1. Und wie man sieht, hält das Leben immer wieder Überraschungen bereit, Rahmenbedingungen ändern sich, aus hoch aktiven werden “Mittelfeldspieler” oder umgekehrt. Eine Portion Distanz zu den Zahlen und zum eigenen Tun ist eigentlich nie verkehrt. Danke, lieber Bernd, für deinen wissenden Kommentar.

  2. Ein interessanter Artikel, den ich gerade erst entdeckt aber gleich zwei mal gelesen habe. In meiner täglichen Laborarbeit habe ich auch viel mit Statistik zu tun und sie ist immer nur ein kleiner Ausschnitt der Realität – wenn auch ein interessanter.
    Es soll ja tatsächlich Ruderer geben, die auch noch anderen Sportarten nachgehen oder “nebenbei” noch den Ehrgeiz besitzen, die Balance mit einem Familienleben halten zu wollen…
    Martin Luther halte ich sehr in Ehren, aber auch bei seiner Ansicht zum Ehrgeiz gilt wohl der gute alte Paracelsus, nachdem “die Dosis das Gift macht”.

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